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Pippi Langstrumpf wird 80 – ein Vorbild oder pädagogisch fraglich?

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Ein Essay über das stärkste Mädchen der Welt, das die Welt der Kinderliteratur bis heute auf den Kopf stellt

Im Jahr 2025 feiert eine der ikonischsten Figuren der Kinderliteratur ihren 80. Geburtstag: Pippi Langstrumpf. Was als Gute-Nacht-Geschichte für die kranke Tochter der schwedischen Autorin Astrid Lindgren begann, hat sich zu einem globalen Phänomen entwickelt. Millionen Kinder weltweit haben mit ihr gelacht, geträumt und sich gewünscht, genauso frei und furchtlos zu sein wie sie. Doch mit dem Jubiläum stellt sich auch eine kritische Frage: Ist Pippi Langstrumpf heute – in einer Zeit zunehmender Sensibilität für Sprache, Wertevermittlung und Diversität – noch ein zeitgemäßes Vorbild? Oder ist sie eine pädagogisch fragwürdige Figur?

Die Jubiläumskampagne „Be more Pippi“, die von Verlagen, Spielwarenherstellern und Medien begleitet wird, ruft dazu auf, mutiger, freier und freundlicher zu sein – ganz im Sinne der rothaarigen Rebellin mit den abstehenden Zöpfen. Doch kann man Pippis unkonventionelles Verhalten tatsächlich unreflektiert als Vorbild präsentieren? Die Antwort ist, wie so oft bei Ikonen: Es kommt darauf an.

Historischer Kontext und Entstehung

Die Geschichte von Pippi Langstrumpf beginnt 1941, als die damals siebenjährige Karin Lindgren ihre Mutter Astrid bittet: „Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf.“ Der Name war frei erfunden, doch die Mutter, eine begnadete Erzählerin, entwickelte daraus eine literarische Figur, die gängige Geschlechterrollen und Erziehungsideale sprengte.

1944 schickte Lindgren das Manuskript an einen Verlag, wurde jedoch abgelehnt. Erst 1945 erschien Pippi Langstrumpf im Rabén & Sjögren Verlag und wurde sofort ein Bestseller. Die deutsche Erstausgabe folgte 1949. Damals war Pippi eine Revolution. In einer Nachkriegszeit, die von Gehorsam, Disziplin und rigiden Normen geprägt war, trat ein Mädchen auf den Plan, das sich weder vor Lehrern noch vor Erwachsenen beugte, das keinen Respekt vor Autorität hatte und ihren eigenen moralischen Kompass folgte.

Pippi war ein Befreiungsschlag – für Kinder, die sich endlich ernst genommen fühlten, und für Erwachsene, die hinter dem Lachen vielleicht auch eine neue Form des Denkens erkannten. Astrid Lindgren selbst sagte einst: „Ich habe Pippi so geschrieben, wie ich selbst gern gewesen wäre.“

Pippi als Vorbild

Aus pädagogischer Perspektive kann man zunächst viele positive Aspekte Pippis herausstellen. Sie ist stark, unabhängig und solidarisch. Pippi lebt alleine – ohne Eltern, ohne Aufsicht. Trotzdem kümmert sie sich liebevoll um ihre Tiere, Herrn Nilsson und das Pferd Kleiner Onkel, sowie um ihre Freunde Tommy und Annika. Sie ist mutig, fantasievoll und freundlich – aber eben auch wild, unkonventionell und anarchisch.

Für viele gilt sie als feministische Ikone, lange bevor das Wort „Feminismus“ im Mainstream ankam. In einer Welt, in der Mädchen darauf gedrillt wurden, brav, leise und fleißig zu sein, ist Pippi das Gegenteil. Sie schlägt sich, sie lacht laut, sie widerspricht Erwachsenen, sie lebt nach ihren eigenen Regeln – und dabei vermittelt sie eine zentrale Botschaft: Mädchen dürfen alles sein.

Die Kampagne „Be more Pippi“ knüpft genau daran an: Mut, Freiheit und Freundlichkeit sollen Kindern heute wieder als Kernwerte vermittelt werden – jenseits von Leistungsdruck und starren Geschlechternormen. Zahlreiche prominente Persönlichkeiten wie Greta Thunberg, Malala Yousafzai oder Billie Eilish wurden bereits mit Pippi verglichen, weil sie für das einstehen, woran sie glauben – ohne sich zu verbiegen.

Pädagogische Kontroversen

Doch trotz – oder gerade wegen – ihrer Unangepasstheit ist Pippi Langstrumpf auch immer wieder Ziel pädagogischer und gesellschaftlicher Kritik. Da wäre zum einen ihr Verhalten gegenüber Autoritäten: Sie verspottet Lehrer, widerspricht Polizisten, lügt, übertreibt und zeigt keinerlei Schulpflichtgefühl. Für konservative Stimmen ist sie damit ein denkbar schlechtes Vorbild: Eine Figur, die Regeln missachtet, der keine Grenzen gesetzt werden und die sich jeglicher Erziehung entzieht.

Pädagogen diskutieren bis heute: Lässt sich ein solches Rollenbild verantwortungsvoll Kindern vermitteln? Entsteht hier nicht ein Ideal, das in der Realität zu Konflikten führt – wenn Kinder glauben, sich ebenfalls allem verweigern zu dürfen, was ihnen nicht gefällt?

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft rassistische oder kolonialistische Begriffe in den Originaltexten. In früheren Ausgaben spricht Pippi etwa vom „Negerkönig“, was heute aus gutem Grund als diskriminierend gilt. Astrid Lindgrens Tochter und die Erbengemeinschaft haben hier sensibel reagiert: Seit 2009 sind diese Passagen überarbeitet, die Sprache angepasst. Heute heißt es neutral „Südseekönig“. Auch andere problematische Textstellen wurden modifiziert, um eine kindgerechte und respektvolle Lesart zu ermöglichen.

Diese Änderungen zeigen, dass Pippi durchaus mit der Zeit geht – ohne ihre grundlegende Botschaft zu verlieren.

Pippi im Wandel der Zeit

Die literarische Figur Pippi Langstrumpf ist längst über ihre ursprüngliche Form hinausgewachsen. Es gibt Hörspiele, Zeichentrickserien, Theaterstücke und Realverfilmungen. Die Schauspielerin Inger Nilsson prägte das Bild Pippis in der gleichnamigen Fernsehserie der 1970er Jahre für eine ganze Generation.

Zum 80. Geburtstag im Jahr 2025 wurde Pippi neu inszeniert: Die Kampagne „Be more Pippi“ bringt die Figur in Schulen, Kindergärten und soziale Projekte. Der Verlag Oetinger veröffentlicht neue Ausgaben, Hörbücher mit der Schauspielerin Jella Haase und begleitende Unterrichtsmaterialien. Die Werte, für die Pippi steht – Mut, Neugier, Hilfsbereitschaft – sollen bewusst in den Vordergrund gestellt werden, ohne die Kontroversen zu leugnen.

Pippi ist also keine starre Figur, sondern ein kulturelles Chamäleon, das sich anpassen kann, ohne ihren Kern zu verlieren. In einer Zeit, in der Kinder oft mit Leistungsdruck, digitalen Medien und sozialen Zwängen konfrontiert sind, wirkt Pippis Lebensphilosophie geradezu therapeutisch: Du darfst du selbst sein – und das reicht.

Ein Ideal von Freiheit und Gerechtigkeit

Pippi Langstrumpf ist keine perfekte Heldin. Sie ist chaotisch, provokant und ungehobelt – aber genau darin liegt ihre Kraft. In einer Welt, die Kinder oft in enge Rollen pressen will, bietet sie einen Kontrapunkt voller Fantasie, Eigenständigkeit und Lebensfreude.

Ob Pippi ein pädagogisch sinnvolles Vorbild ist, hängt stark davon ab, wie sie präsentiert wird. Wenn ihre Geschichte kontextualisiert und diskutiert wird – etwa durch Eltern, Lehrkräfte oder durch moderne Adaptionen – kann sie Kindern helfen, Selbstbewusstsein, Kreativität und soziale Verantwortung zu entwickeln. Wird sie jedoch unreflektiert als Freibrief für Regelbruch und Egoismus verstanden, droht ein Missverständnis ihres Charakters.

Astrid Lindgren selbst sah ihre Figur nie als Vorbild im klassischen Sinne. Pippi ist ein Gedankenspiel, ein Ideal von Freiheit und Gerechtigkeit, das Kindern ermöglicht, die Welt mit eigenen Augen zu sehen. Genau deshalb bleibt sie auch nach 80 Jahren aktuell – vielleicht sogar mehr denn je.

Denn in einer Welt voller Regeln, Erwartungen und Normen brauchen wir hin und wieder eine Pippi, die sagt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Und genau das – ist nicht pädagogisch fraglich, sondern befreiend.

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