Der Familienalltag ist geprägt von Verpflichtungen, Termindruck und emotionaler Fürsorge – oft zulasten derjenigen, die für andere sorgen. Vor allem Mütter, aber auch Väter, stecken viel Energie in den Familienbetrieb, ohne ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Doch wer dauerhaft über die eigenen Grenzen geht, zahlt einen hohen Preis – körperlich, emotional und sozial. Selbstfürsorge wird häufig als egoistisch missverstanden, dabei ist sie eine Grundvoraussetzung für ein stabiles Familienleben. „Nur wer für sich selbst sorgt, kann auch gut für andere da sein“, bringt es die Psychologin Anke Precht auf den Punkt.
Warum Selbstfürsorge keine Zeitverschwendung ist
In Krisensituationen im Flugzeug gilt: Erst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, dann den Kindern helfen. Diese Regel gilt sinnbildlich auch für den Alltag. Wenn Eltern ihre Akkus leer laufen lassen, verlieren sie langfristig die Fähigkeit, präsent und einfühlsam auf ihre Kinder einzugehen. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) aus dem Jahr 2024 fühlen sich rund 62 % der Eltern oft oder sehr oft gestresst. Besonders betroffen sind Mütter: 68 % von ihnen berichten von dauerhafter Erschöpfung und Überlastung.
Was vielen schwerfällt: Selbstfürsorge wird mit Egoismus verwechselt. Dabei ist sie das Gegenteil – nämlich ein Akt der Verantwortung. Nicht zuletzt, weil der elterliche Zustand unmittelbar auf Kinder wirkt. Wer selbst permanent unter Druck steht, überträgt diesen Druck auf seine Umgebung. Psychotherapeutin Judith Barth sagt: „Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern ein Notwendigkeitsprinzip in jedem System, das funktionieren soll – ob Familie oder Team.“
Wirkung auf Eltern und Kinder
Selbstfürsorge hat eine unmittelbare Wirkung auf die emotionale Stabilität und das Verhalten der Eltern. Wer sich regelmäßige Auszeiten gönnt, stärkt nicht nur seine Resilienz, sondern auch die Beziehung zum Kind. Eine entspannte Mutter oder ein entspannter Vater reagiert geduldiger, feinfühliger und lösungsorientierter.
Darüber hinaus wirkt Selbstfürsorge vorbildlich: Kinder lernen durch Beobachtung. Wenn sie sehen, dass Eltern achtsam mit sich selbst umgehen, Pausen einlegen und Grenzen setzen, übernehmen sie dieses Verhalten. So entsteht ein generationsübergreifendes Selbstwertgefühl. „Wer sich selbst ernst nimmt, zeigt seinem Kind, dass es das auch darf“, betont Familientherapeutin Katja Seide.
Auch präventiv wirkt Selbstfürsorge wie ein Puffer gegen mentale Krisen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) warnt seit Jahren vor dem sogenannten „Mama-Burnout“. Dieser Zustand umfasst emotionale Erschöpfung, Überforderung und das Gefühl, dauerhaft zu kurz zu kommen. Die Ursache liegt fast immer in fehlender Selbstfürsorge – nicht im Kind.
Hürden in der Umsetzung
Trotz der bekannten Vorteile fällt es vielen Eltern schwer, Selbstfürsorge zu etablieren. Eine der größten Hürden ist das schlechte Gewissen. Aussagen wie „Ich bin doch Mutter, da geht das nicht“ oder „Ich darf mein Kind nicht vernachlässigen“ sind tief verankerte Glaubenssätze, die sich oft unbewusst weitervererben.
Auch der gesellschaftliche Druck trägt zur Überforderung bei: Perfekte Mütter und Väter auf Social Media, unrealistische Ideale in Elternratgebern, ständige Vergleiche mit anderen Familien. Hinzu kommt der permanente Zeitmangel – der aber meist kein echtes Hindernis, sondern Ausdruck mangelnder Prioritätensetzung ist. Denn: Selbst zehn Minuten am Tag können bereits eine spürbare Wirkung entfalten.
Methoden und Strategien
Selbstfürsorge muss nicht spektakulär oder teuer sein – im Gegenteil: Kleine, regelmäßige Rituale sind oft effektiver als große Wellness-Wochenenden. Hier einige alltagstaugliche Methoden:
- Morgendliche Me-Time: Den Tag mit einer bewussten Handlung beginnen – sei es eine Tasse Kaffee in Stille, ein fünfminütiger Spaziergang oder ein kurzes Stretching.
- Atmen & Achtsamkeit: Mini-Meditationen (z. B. mit der 4-7-8-Methode) helfen, akuten Stress abzubauen und sich zu zentrieren.
- Feste Zeiten blocken: Wöchentliche „Ich-Zeiten“ wie eine Stunde Lesen, Sport oder kreative Beschäftigung im Kalender eintragen – und ernst nehmen wie einen Arzttermin.
- Aufgaben delegieren: Partner einbinden, Großeltern aktivieren oder externe Hilfen nutzen. Selbstfürsorge ist kein Alleingang.
- Nein sagen lernen: Nicht jedes Elternabend-Projekt oder Kuchenbuffet ist Pflicht. Die innere Erlaubnis, Prioritäten zu setzen, ist ein wichtiger Schritt.
Praxisbeispiele & Übungen
Psychologin Anke Precht empfiehlt die „Ein-Prozent-Regel“: 1 % des Tages – das sind etwa 15 Minuten – nur für sich selbst zu reservieren. Diese Zeit kann genutzt werden für:
- eine Atemübung oder kurze Meditation
- Musik hören, ohne etwas anderes zu tun
- eine Tasse Tee im Sitzen und in Stille
- eine Seite im Lieblingsbuch lesen
- Gedanken aufschreiben (Journaling)
Viele Eltern berichten von Aha-Erlebnissen: „Ich dachte immer, ich habe keine Zeit. Aber als ich mich traute, mir morgens 10 Minuten allein zu nehmen, war der Tag plötzlich strukturierter“, erzählt eine Mutter dreier Kinder in einem Erfahrungsbericht des Familienportals elternseite.at. Auch kleine Veränderungen im Tagesablauf – etwa ein bewusstes Nein zu Smartphone-Dauerverfügbarkeit – führen schnell zu mehr Klarheit und Energie.
Gesellschaftlich-politischer Kontext
Der Begriff „Selfcare“ wurde in den letzten Jahren stark kommerzialisiert – mit duftenden Bädern, Coaching-Apps und Yogamatten. Das eigentliche Konzept gerät dabei oft aus dem Blick: Es geht nicht um Konsum, sondern um Selbstverantwortung. Selbstfürsorge ist kein Trend, sondern ein Menschenrecht – auch unabhängig von Bildungsgrad oder Einkommen.
Familienfreundliche Strukturen in der Arbeitswelt, flexible Kinderbetreuung und mentale Gesundheitsangebote in Schulen und Kitas sind notwendige Rahmenbedingungen. Auch Väter müssen stärker eingebunden werden – nicht nur bei der Care-Arbeit, sondern auch bei der Erlaubnis zur eigenen Selbstfürsorge. Es braucht einen Kulturwandel, der Elternsein nicht mit Selbstaufgabe gleichsetzt.
Fazit & Appell
Selbstfürsorge ist kein Egoismus – sie ist Fürsorge mit Weitblick. Wer sich selbst gut behandelt, sendet eine starke Botschaft an Kinder und Partner: Bedürfnisse sind wichtig. Ein gesunder Familienalltag entsteht nicht durch ständiges Geben, sondern durch ein ausgewogenes Nehmen und Geben.
Deshalb: Nimm Dir heute ein Blatt Papier und notiere fünf Dinge, die Dir guttun. Blocke Dir morgen 15 Minuten nur für Dich – ohne Schuldgefühl. Und erinnere Dich daran, dass es nicht nur um Dich geht – sondern um alle, die von Deiner Kraft zehren.
„Selbstfürsorge ist der Akt, sich selbst die gleiche Güte entgegenzubringen, die man sonst anderen schenkt.“ – Kristin Neff, Forscherin zur Selbstmitgefühl.